Zur Geschichte der Auswanderung aus dem Alten Amt Damme (Oldbg.) von Johannes Ostendorf

10. Zusammenfassung und Ausklang

Wie tief die Auswanderung die Gemeinden des ganzen Kreises Vechta erfaßte. Mag ein Überblick aus der Bevölkerungsbewegung dartun (siehe Tabelle 11). Diese Übersicht zeigt für alle Gemeinden mitAusnahme der Stadt Vechta ein Sinken der Einwohnerzahl. Die größte Unterschied (1837 zu 1875) beträgt 6557 Personen; das ist ein Sechstel, ein Verhältnis, das im natürlichen Abgang, also durch Versterben, unwahrscheinlich ist. Der Unterschiedsbetrag muß jedoch noch vermehrt werden um den Geburtenüberschuß, der für das Kreisgebiet und die Jahre 1829 - 1890 insgesamt 15 389 Personen betrug. Für manchen Fortgezogenen kam Zuzug (Vechta, Visbek, Goldenstedt...); die Kirchenbücher und später auch amtliche Erhebungen weisen das nach. Jeder Zuzug hebt zwar praktisch die Einwohnerzahl, vermehrt aber auch die Zahl der Auswanderer. Die Gesamtzahl der Ausgewanderten wird für das Kreisgebiet bei 20 000 liegen.

Nicht alle Gemeinden wurden in der Tiefe gleich stark von der Auswanderung erfaßt, wie die Ausfallprozente dartun; über die
Breitenwirkung (ungefährer Beginn des An- und Absteigens der Wanderungskurve, die dem Absinken und Aufholen der Einwohnerzahl entspricht) geben die unterstrichenen Zahlen Kunde. Während der Beginn des Abfließens sich ziemlich gleichzeitig ankündigt, ist der Tiefstand weiter auseinandergezogen (Oythe: Lutten und 1855 : 95).
Es kann im Rahmen dieser Arbeit nicht Aufgabe sein, die Unterschiede für die einzelnen Gemeinden darzulegen. Die der Übersicht angehängten Vergleichszahlen aus 1933 und 1939 zeigen, inwieweit der Blutabfluß überwunden werden konnte.

Aus dem Bevölkerungsstand des Amtes Vechta
(Volkszählungsergebnisse)

1828
1837
1846
1855
1864
1871
1875
1880
1885
1890
1895
Gesunken

um %

1933 1939
B a k u m . . . . . . . . . . . 2305 2155 2065 1904 1802 1700 1688 1714 1665 1724 1779 27,8 2389 2393
D a m m e . . . . . . . . . . 6295 6071 5455 5078 4877 4669 4682 4748 4576 4663 4690 27,3 6405 6491
D i n k l a g e . . . . . . . . 4465 4337 4021 3431 3398 3314 3329 3420 3407 3531 3695 25,8 5113 5201
G o l d e n s t e d t . . . . 2286 2190 2175 2189 2196 2112 2103 2162 2135 2266 2366 8,0 3607 3661
H o l d o r f . . . . . . . . . 2334 2244 2015 1830 1772 1595 1618 1579 1502 1478 1516 36,7 2062 2000
L a n g f ö r d e n . . . .  1504 1594 1499 1349 1369 1360 1349 1379 1375 1398 1400 15,4 1992 1975
L o h n e . . . . . . . . . . . 4564 4720 4653 4280 4205 4094 4102 4238 4171 4405 4558 13,3 7611 8234
L u t t e n . . . . . . . . . . 1036 1027 1046 1011 986 970 949 926 928 929 896 14,3 1172 1300
N e u e n k i r c h e n . 2525 2438 2125 1976 1822 1789 1730 1652 1555 1531 1533 38,4 2088 2570
O y t h e . . . . . . . . . . . 837 894 871 775 801 797 809 820 810 784 787 13,3 967 1123
S t e i n f e l d . . . . . . . 3330 3593 3366 3216 2997 2695 2521 2665 2542 2592 2641 24,9 3997 4074
V e c h t a . . . . . . . . . . 2208 2502 2427 2436 2682 2724 2730 3040 3040 3035 3196 +44,7 6043 6682
Ve s t r u p . . . . . . . . . 1106 1069 1070 944 886 845 846 866 834 815 840 26,3 1472 1463
V i s b e k . . . . . . . . . . 2653 2822 2864 2772 2721 2627 2644 2701 2768 2728 2836 8,3 4509 4745
37448 37657 35652 33191 32514 31291 31100 31910 31308 31879 32733
17,4
49427 51912

Eine Ausnahmestellung nimmt die Stadt Vechta ein. Sie ist begründet in der Tatsache, daß es als Kreisstadt der Sitz der Behörden (Amt, Gericht, Kirche und Schule) war, sodann der Strafvollstreckungsanstalten (Zuchthaus, Gefängnisse, Besserungsanstalten) und der höheren Schulen (Gymnasium, Lehrerbildungsanstalten). Vermehrte Belegschaft schraubte die Bevölkerungszahl in die Höhe und zog Handel und Gewerbe stärker herbei. Die Stadtgemeinde Vechta blieb indessen von der Auswanderung nicht verschont.

Die Auswanderungsgeschichte spiegelt ein Stück Heimat- und Volksgeschichte wider, dient der Pflege des Auslandsdeutschtums und will aus der Vergangenheit heraus der Gegenwart ein Wegweiser in die Zukunft sein.

Die aus dem alten Amte Damme und dem gleichgearteten Kreise Vechta hinausgezogenen Wanderer waren ein gutes Siedlervolk: einfach in der Lebensführung, an harte Arbeit gewöhnt, in Sparsamkeit geübt. Als selbständige Landwirte, sei es als Heuermann, als Neubauer, als Kleingrundbesitzer, hatten sie ihren Betrieb in Altland und Neukultur gehörig geführt, damit er der eigenen Familie Grund lage abgab. Sie hatten auch in größeren bäuerlichen Betrieben regsam mitgearbeitet und ihren Blick geschärft für all die Zusammenhänge zwischen Boden und Düngung, Fläche und Einsaat, Einsaat und Ernte, zwischen Mensch und Maschine, Wetter und Arbeit, Boden und Mensch, geschärft auch den Blick für all die Lebensnotwendigkeiten
und den Willen gestählt zu vermehrter Arbeit in jeder Art, um das Leben zu meistern. An Intensität der Arbeit, an kluger, sparsamer und vorsichtiger Wirtschaftsführung hielt ihr betrieb jeden Vergleich aus, auch mit den größten und größten bäuerlichen. Man pflegte zu sagen: Setzt einen Heuermann als Pächter auf die Bauernstelle, dann werden von der Pachtung nicht nur die Pachtgelder, sondern auch die Gefälle wie Steuern, Abgaben usw. Hereinkommen. Wenn also jemand als Siedler taugte infolge Fähigkeit, Anpassungsvermögen und elastischer Wirtschaftsführung, dann war es dieser Kreis der Auswanderer. Kam dann noch eine, wenn auch bescheidene Sicherstellung der finanziellen Grundlage zur Erstehung des Bodens, zur Beschaffung des Grundstocks an Wirtschaftsvieh und -geräten und eines einfachen Wohnhauses hinzu, dann war die Siedlung als geglückt anzusehen.

Noch eine andere Seite ist zu berücksichtigen, die Ideelle.
Die Auswanderer hatten Bindungen zur Gemeinschaft. Die kleinste und engste war die der Familie. Familienwanderungen mit der Frau und Mutter als Pol hatten die sicherste und breiteste Basis für den Bestand. Wie stark das Familienband zog, zeigten ja auch die Bemühungen der einzelwanderer, zurückgebliebene Familienmitglieder zu sich herüber zu ziehen, um den Geist der Gemeinschaft um sich zu haben und ihn täglich zu spüren. Nicht mehr so zugkräftig war die Bindung an die Nachbarschaft, die bei den Heuerleuten mit der Hofgemeinschaft zusammenfiel. In Freud und Leid, auch bei Arbeit zueinander zu stehen, war Sinn und Inhalt der Nachbarschaft. Mit der Lösung aus der Nachbarschaft blieb die Erinnerung an gute und - vielleicht mehr - an böse Tage, die Pflicht aber gemahnte nicht mehr. Lockerer wurde schon der Verband zur Bauerschaft. Bauerschaftsweise war man zu ,,gemeinen Arbeiten" angetreten, zu Wegeaufbesserungen, bei Bränden, am Osterfeuer, zu besonderen kirchlichen Festen usw. Die Besitzlosen waren politisch unmündig und dadurch einflußlos und hatten an Gemeinde, Amt und Land nur ein bedingtes Interesse - eine Folge der staatsgeschichtlichen Entwicklung - das nur in der Erfüllung von auferlegten und ungern getragenen Pflichten bestand. Man beanspruchte Gemeinde, Amt und Land ebenso ungern, daher selten, eben weil das Zusammengehörigkeitsgefühl nur verwaltungsmäßig empfunden wurde.

Waren die alten Bindungen ein Hindernis für die Auswanderung?
Scheinbar nicht. Schon ein Amtsbericht erwähnte die Leichtigkeit, womit sich die Fortwanderer von der Heimat trennten, und auf die Frage der Regierung an die Ämter, zu berichten, wie viele Auswanderer vor ihrer Einschiffung in ihrem Vorhaben wankend geworden und zurückgekehrt seien, antwortete das Amt Damme am 31. Juli 1834: ,,Vor seiner Einschiffung ist keiner von ihnen zurückgekommen(A III 7)."

,,Fleit duitschland, vivat Amerika(Aka , Georg S.68)!" rief ein aus Hagstedt in der Gemeinde Visbek auswandernder Heuermann. Das Wort spricht Bände. Waren wirklich Bindungen an Heimat und Vaterland abgetötet oder nur von materiellen Wucherungen überdeckt und nieder gehalten? Oder war der deutsche faustische Drang nach fremden Sternen, das deutsche ,,Fernweh", so groß?
Gern ertrug man die Anstrengungen der Schiffahrt (30 bis 100 Tage); vertrauensselig offenbarte man sich im amerikanischen
Hafen den sich menschenfreundlich stellenden Grundstücksagenten und Transporteuren und schwärmte dann, nur zu oft an seiner Barschaft erleichtert oder gar um sie betrogen, führerlos in die Fläche, einzeln, höchstens in kleinen Gruppen. Auf sich allein gestellt, verlor man in der Weite der Gegend vielfach die Verbindung, suchte sie aber wieder. Siedlergruppen errichteten schon bald eine Kirche als Mittel- und Treffpunkt, gliederten eine Schule (Pfarrschule) an und hatten in schweren Tagen einen Ort für das gläubige Herz und fanden die Gesellschaft von schicksalsgleichgerichteten Menschen. Unentwegt krallte man seine Hände in den Boden, klärte ihn, grub und pflügte, säte und erntete, verbrauchte und verkaufte. Man freute sich jedes, auch des kleinsten Gewinnes und plante weiter in die Zukunft hinein.
Doch Rückschläge blieben nicht aus. Mißjahre, Krankheiten, Todesfälle brachten unerfüllte Hoffnungen und führten zum Nachdenken, zum Besinnen, zum Besinnen auf ideelle Güter, die man doch entbehrte.

,,Der mit aller Pracht herannahende Frühling hatte für mich seine Reize verloren. Der dunkelgrün belaubte Wald, der mit seinen schönen Blüten von der kleinsten Staude an bis zur größten Plantane alle seine Schönheiten entfaltete, worin ich noch vor einigen Wochen mit Vergnügen umherwanderte und der mir bereits ein sehr angenehmer Aufenthalt geworden war, war mir nun einsam und öde; selbst die an der Ostseite von Jennings durch den Auglaize Fluß gebildete Halbinsel, die vorzüglich über die Wasserspiegel hin mit ihren blumenreichen und mannigfaltigen Stauden, Sträuchern und kleinen Bäumen mehr das Ansehen eines botanischen Gartens als das eines wilden Gebüsches hatte, war mir jetzt freudelos. Obwohl die muntere Schar der Singvögel, die freilich mehr durch ihr schönes Gefieder das Auge als durch ihren Gesang das Ohr ergötzten, und worunter mir vorzüglich der Kanarienvogel als ein in Deutschland schon bekanntes Geschöpf und der Kolibri, wohl unstreitig das niedlichste Tierchen der ganzen Schöpfung, wegen seines sausenden Gesanges, wenn er im leichtesten Fluge die schönsten Blumen umschwirrt, und des gefälligen Farbenspiels, durch eine zarte und behende Wendung seines Köpfchens hervorgebracht, wenn er sich im hellen Sonnenschein auf irgendeinem kleinen Strauch in der Nähe einer schönen Blume niederläßt, mir sehr angenehm und willkommen waren und uns den Verlust der Nachtigall und der Lerche ersetzten, waren mir jetzt ebensoviel Boten, die uns laut zuriefen: ,,Wo wir wohnen, ist kein Wohnort für Menschen, die auf deutschem Boden geboren und erzogen sind!" Sogar das Getöse der von kräftigen Axthieben des Waldbewohners niederstürzenden Eichen, welches mir Musik war, weckten unangenehme und trübe Gefühle in mir"(Sonntagsblatt Nr.26 vom Jahrgang 1837).

Das war Heimweh. ,,heimweh ist ein heilig Band zwischen Herz und Vaterland", sagt Kinau. Dieses heilige Band, das doch zutiefst in jedem deutschen Blute schlummert, meldete sich und brach, bisher vielleicht liberal übertüncht oder gar gewaltsam niedergehalten, nun doch hervor und verlangte Beachtung. Einige wenige konnten das Heimverlangen stillen und zurückkehren in den Bann des angestammten Bodens und Blutes. Die meisten blieben, mußten bleiben, weil sie zu stolz auf ihre Erfolge in der ,,Neuen Welt" geworden waren, um sich in die kleinen Verhältnisse der alten Heimat zurück zu finden.
Bei der ersten im Fremdlande geborenen Folgegeneration der Auswanderer schwieg diese Stimme mehr und mehr; man ,,akklimatisierte" sich, und die dann folgenden Geschlechterreihen erschienen oberflächlich, bald wurzellos in der Bindung zur Altheimat. Die Bindungen waren zerrissen.
Es hätte nicht so zu kommen brauchen. Auch dafür ein Beispiel.
Die ,,Ungarnfahrer" hatten sich hier zu einer Siedlungsgruppe zusammengeschlossen, die sich dann als völkische Gemeinschaft, also nicht bindungs- und uferlos, auf einer bestimmten Fläche ansetzte.
Der angekaufte Grund war zuerst allen gemeinsam, die Arbeit wurde von allen Schultern getragen, die Ernte kam allen zugute, das Leid wurde nicht einzeln verteilt, es traf alle und jeden. Eine umsichtige und starke Führung schuf eine festgefügte Gemeinschaft auf Gedeih und Verderb, gleichsam eine große Familie auf gleichem Boden und im Kreise gleichen Blutes. Nachdem man die unausbleiblichen Notjahre gemeinsam überwunden hatte und die Siedlerprüfung bestanden war, teilte man die Fläche an die Mitglieder der Gemeinschaft auf. Die erprobte Gemeinschaft aber kittete bis in die Jetztzeit und gab Kraft zum Niederkämpfen aller Hindernisse. Und der Erfolg?
Wer heute in die über 80 Jahre alte Siedlung Tscherman, die aus etwa 2/3 Oldenburgern (Dammern, Neuenkirchenern, Steinfeldern, Lohnern ...) Und 1/3 Bersenbrückern (Ankumern ...) Besteht, kommt, fühlt sich wie zu Hause. Heimatgetreu, plattdeutsch wird gesprochen, heimatgetreu ist der Tagesablauf an Arbeit und Ruhe, heimtgetreu sind Brauchtum und Sitte in Familie und Gemeinschaft, heimatgetreu blieb und ist der Sinn: ehrlich und wahr, kernig und gerade, heimatgetreu die ideelle Ausrichtung: treudeutsch.

Die Auswanderung nach Nordamerika seit 1830 war unter liberaler Weltanschauung materialistisch eingestellt und darum völlig ein Kind jener Zeit. Um Land, ein Leben ohne Sorge, ein Leben der Fülle, ein Leben der Freiheit, das ,,Arabien des Glücks" zu gewinnen, opferte man dafür bewußt Heimat und Vaterland und mußte doch erkennen:
Nicht das Träumen in Zukunftsplänen, nicht der kaltberechnende Verstand allein sind imstande, die Kraft zum Durchstehen all der Schwierigkeiten zu geben, es muß der ideelle Gehalt dazukommen. Die ideelle Schwungkraft aber kann nur aus dem Gefühl zur Volksgemeinschaft quellen und gipfelt in dem Wissen und Wollen, volkstumspolitischer Vorkämpfer zu sein und zu bleiben. Die Folgerungen und Lehren daraus zu ziehen, ist unserer Zeit überlassen: Jede Aussiedlung bzw. Abwanderung kommt aus der volksgemeinschaft und muß ideell und materiell von ihr getragen werden. Es darf nicht wieder zu einem Einzelgängertum wie in den Jahren 1830 - 1880 und ferner kommen; die Auswanderung nach Amerika war und ist eine Tragödie des deutschen Blutes.

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